Polyvagal-Theorie Übungen

Polyvagal-Theorie: Übungen für dein Nervensystem + PDF

Entdecke die Polyvagal-Theorie nach Stephen Porges, lerne effektive Übungen zur Regulation deines Nervensystems kennen und lade dir ein kostenloses PDF mit Anleitungen herunter.

Was ist die Polyvagal-Theorie? Grundlagen und neurobiologische Einordnung

Die Polyvagal-Theorie wurde in den 1990er Jahren von dem Neurowissenschaftler Stephen Porges entwickelt. Sie bietet ein erweitertes Verständnis des autonomen Nervensystems, insbesondere des Vagusnervs, der eine zentrale Rolle bei der Regulation unserer physiologischen Zustände spielt. Porges identifizierte drei Hauptzustände:

  • Ventraler Vaguskomplex: Fördert soziale Interaktion und Ruhe.
  • Sympathisches Nervensystem: Aktiviert Kampf- oder Fluchtreaktionen.
  • Dorsaler Vaguskomplex: Führt zu Immobilisierung oder Erstarrung.

Diese Theorie betont, wie unser Nervensystem unbewusst auf Umweltreize reagiert, um Sicherheit zu gewährleisten. Dieses Konzept der Neurozeption beschreibt, wie wir ohne bewusstes Nachdenken Gefahren oder Sicherheit wahrnehmen und entsprechend reagieren.

Die Aufgabe deines autonomen Nervensystems: Überleben sichern durch Anpassung

Dein autonomes Nervensystem arbeitet ständig im Hintergrund, um dein Überleben zu sichern. Es passt sich automatisch an Umweltreize an, indem es zwischen den oben genannten Zuständen wechselt. Diese Anpassungsfähigkeit ermöglicht es dir, auf verschiedene Situationen angemessen zu reagieren, sei es durch soziale Interaktion, Flucht oder Erstarrung.

Bisheriges Verständnis: Dein parasympathisches Nervensystem sorgt für Ruhe und Entspannung

Traditionell wurde angenommen, dass der Parasympathikus ausschließlich für Ruhe und Erholung zuständig ist. Er wurde als Gegenspieler des Sympathikus betrachtet, der für Aktivierung und Stressreaktionen verantwortlich ist. Diese Sichtweise war jedoch zu einfach, da sie die Komplexität des parasympathischen Systems nicht vollständig erfasste.

Polyvagale Erkenntnis: Dein Parasympathikus hat zwei Anteile – Entspannung und Erstarrung

Die Polyvagal-Theorie erweitert dieses Verständnis, indem sie zeigt, dass der Parasympathikus zwei unterschiedliche Äste hat:

  • Der ventrale Vagus unterstützt soziale Interaktion und Entspannung.
  • Der dorsale Vagus kann bei überwältigendem Stress zu Erstarrung führen.

Diese Unterscheidung erklärt, warum Menschen in extremen Stresssituationen manchmal „abschalten“ oder sich emotional taub fühlen.

Neurozeption: Wie dein Nervensystem Sicherheit und Gefahr unbewusst erkennt

Neurozeption ist der Prozess, durch den dein Nervensystem unbewusst entscheidet, ob eine Situation sicher oder gefährlich ist. Diese Einschätzung beeinflusst, welchen Zustand dein autonomes Nervensystem aktiviert. Eine fehlerhafte Neurozeption kann dazu führen, dass du in sicheren Situationen unnötig gestresst bist oder in gefährlichen Situationen nicht angemessen reagierst.

Die Polyvagal-Theorie anhand eines alltäglichen Beispiels einfach erklärt

Stell dir vor, du gehst abends allein durch einen dunklen Park. Plötzlich hörst du ein Geräusch hinter dir. Dein Herzschlag beschleunigt sich, deine Muskeln spannen sich an – dein Sympathikus ist aktiviert. Dann erkennst du, dass es nur ein Eichhörnchen war. Dein Körper beruhigt sich, der ventrale Vagus übernimmt, und du fühlst dich wieder sicher. Dieses Beispiel zeigt, wie dein Nervensystem zwischen verschiedenen Zuständen wechselt, um auf Umweltreize zu reagieren.

Polyvagal-Theorie und ihre Rolle bei innerer Ruhe und effektiver Kommunikation

Ein gut reguliertes Nervensystem ermöglicht es dir, ruhig zu bleiben und effektiv zu kommunizieren. Der ventrale Vagus spielt dabei eine Schlüsselrolle, indem er soziale Interaktion fördert und Angst- und Stressreaktionen dämpft. Durch gezielte Übungen kannst du diesen Teil deines Nervensystems stärken, um in sozialen Situationen präsenter und entspannter zu sein.

Polyvagal-Theorie bei chronischem Stress, Angst und Trauma

Chronischer Stress, Angstzustände und traumatische Erfahrungen können dein Nervensystem dysregulieren. Du könntest dich ständig in einem Zustand erhöhter Alarmbereitschaft oder emotionaler Taubheit befinden. Die Polyvagal-Theorie bietet ein Verständnis dafür, wie solche Zustände entstehen, und zeigt Wege auf, wie du durch gezielte Übungen wieder zu einem ausgeglichenen Zustand finden kannst.

Die Polyvagal-Theorie bei chronischen Schmerzen und psychosomatischen Erkrankungen

Chronische Schmerzen und psychosomatische Beschwerden können ebenfalls mit einer Dysregulation des Nervensystems zusammenhängen. Ein überaktiver dorsaler Vagus kann zu einer verminderten Körperwahrnehmung und erhöhtem Schmerzempfinden führen. Durch Übungen, die den ventralen Vagus aktivieren, kannst du lernen, dein Schmerzempfinden zu modulieren und dein allgemeines Wohlbefinden zu verbessern.

Praktische Vagus-Nerv Übungen für mehr innere Stabilität

Basierend auf den Erkenntnissen der Polyvagal-Theorie bietet Stanley Rosenberg einfache Techniken, um die Funktionsweise des Vagusnervs zu unterstützen. Diese Übungen zielen darauf ab, die Wahrnehmung von Stress zu reduzieren und das Erleben von Sicherheit zu stärken, wodurch Körper und Psyche in Einklang gebracht werden.

Grundübung zur Vagus-Aktivierung

Diese Übung zielt darauf ab, den Vagusnerv über die Augenmuskulatur zu stimulieren und so das Nervensystem zu beruhigen.

  • Lege dich bequem auf den Rücken und verschränke die Hände hinter dem Kopf.
  • Halte den Kopf gerade und bewege nur die Augen, indem du nach rechts schaust.
  • Verweile in dieser Position, bis ein Zeichen der Entspannung auftritt (z. B. Gähnen, Seufzen).
  • Blicke dann zur Mitte zurück und wiederhole die Übung zur linken Seite

Halber Salamander

Diese Übung kombiniert gezielte Augenbewegungen mit sanften Kopfneigungen, um die Nackenmuskulatur zu entspannen und den Vagusnerv zu stimulieren.

  • Ausgangsposition: Setze dich bequem aufrecht hin.
  • Augenbewegung: Blicke mit den Augen nach rechts, ohne den Kopf zu bewegen.
  • Kopfneigung: Neige den Kopf langsam zur rechten Schulter.
  • Halten: Verweile in dieser Position für 30 bis 60 Sekunden oder bis du eine entspannende Reaktion wie Gähnen oder Seufzen bemerkst.
  • Rückkehr: Kehre langsam zur neutralen Position zurück.
  • Wiederholung: Führe die Übung auf der linken Seite durch.

Ganzer Salamander

Der ganze Salamander erweitert die vorherige Übung durch die Einbeziehung der Wirbelsäule und fördert so eine tiefere Entspannung.

  • Ausgangsposition: Gehe auf alle Viere, Hände unter den Schultern, Knie unter den Hüften.
  • Kopfhaltung: Halte den Kopf in einer neutralen Position, Blick nach unten.
  • Augenbewegung: Blicke mit den Augen nach links, ohne den Kopf zu bewegen.
  • Kopfneigung: Neige den Kopf langsam zur linken Schulter.
  • Wirbelsäulenrotation: Lasse die Wirbelsäule sanft in die gleiche Richtung rotieren.
  • Halten: Verweile in dieser Position für 30 bis 60 Sekunden oder bis du eine entspannende Reaktion bemerkst.
  • Rückkehr: Kehre langsam zur neutralen Position zurück.
  • Wiederholung: Führe die Übung auf der rechten Seite durch.

Übung bei steifem Nacken

  1. Ausgangsposition: Lege dich auf den Bauch und stütze den Oberkörper auf die Unterarme, sodass der Oberkörper leicht angehoben ist.
  2. Kopfbewegung: Drehe den Kopf langsam zur rechten Seite, soweit es angenehm ist, ohne Schmerzen zu verursachen.
  3. Halten: Verweile in dieser Position für etwa 60 Sekunden oder bis du eine entspannende Reaktion wie Gähnen, Seufzen oder Schlucken bemerkst.
  4. Rückkehr: Bringe den Kopf langsam zurück zur Mitte.
  5. Wiederholung: Führe die gleiche Bewegung zur linken Seite durch und halte sie ebenfalls für etwa 60 Sekunden.

Diese Übung kann helfen, die Beweglichkeit des Nackens zu verbessern, Spannungen zu lösen und die Regulation des autonomen Nervensystems zu unterstützen. Sie ist besonders hilfreich bei Beschwerden wie steifem Nacken, Spannungskopfschmerzen oder Migräne.

Atem, Stimme, Berührung: Einfache Übungen zur Regulation deines Nervensystems

Dein Körper bietet dir verschiedene Werkzeuge zur Selbstregulation:

  1. Atem: Tiefe, langsame Atemzüge aktivieren den ventralen Vagus und fördern Entspannung.
  2. Stimme: Singen oder Summen kann den Vagusnerv stimulieren.
  3. Berührung – Sanfte Vagusmassage am Hals:  Diese Technik ist einfach, aber wirkungsvoll – sie hilft, das Erleben von Sicherheit zu stärken und die Wahrnehmung von Stress zu reduzieren:
    1. Setze dich oder lege dich bequem hin. Stelle sicher, dass du entspannt und ruhig atmest.
      Lege deine Fingerspitzen sanft auf die Seiten deines Halses, etwa dort, wo der Puls tastbar ist – aber drücke nicht fest auf die Halsschlagader.
      Beginne mit kleinen, kreisenden Bewegungen unterhalb des Kieferwinkels, etwa dort, wo der Kiefer auf den Hals trifft.
      Arbeite dich langsam in Richtung Schlüsselbein vor, immer mit leichter Berührung.
      Statt zu kneten, arbeite eher mit streichelnden, beruhigenden Bewegungen – das ist oft effektiver zur Regulation des autonomen Nervensystems.
      Atme dabei bewusst tief durch die Nase ein und durch den Mund langsam aus. Das verstärkt die entspannende Wirkung auf den Vagusnerv.
    Die sanfte Massage am Hals kann eine erstaunlich beruhigende Wirkung auf dein Nervensystem haben. Sie aktiviert den parasympathischen Zweig, insbesondere den ventralen Vagus, der maßgeblich für Entspannung und soziale Verbundenheit zuständig ist. Dabei wird die Regulation von Herzschlag und Atmung unterstützt, was dir helfen kann, aus einem angespannten in einen ausgeglicheneren Zustand zu wechseln. Gleichzeitig trägt die Massage dazu bei, das Gleichgewicht zwischen Körper und Psyche zu fördern – eine Grundlage für mehr innere Ruhe und Stabilität. Viele Menschen berichten, dass sie sich nach dieser Technik deutlich ruhiger fühlen, was vor allem bei innerer Unruhe oder Angstsymptomen sehr wohltuend sein kann. Dabei ist jedoch Achtsamkeit gefragt: Vermeide jeglichen Druck auf den Hals, insbesondere wenn du zu Kreislaufproblemen neigst oder eine Schilddrüsenerkrankung hast. Höre immer auf die Signale deines Körpers – wenn dir während der Massage schwindlig wird oder du dich unwohl fühlst, brich die Übung sofort ab. Und wenn du unsicher bist oder gesundheitliche Vorerkrankungen hast, ist es sinnvoll, vorher Rücksprache mit deiner Ärztin oder Therapeutin zu halten.
Polyvagal-Theorie Übungen

Diese einfachen Techniken kannst du jederzeit anwenden, um dein Nervensystem zu beruhigen und deine Resilienz zu stärken.

Bonus: PDF mit Polyvagal-Übungen zum Download

Um dich bei der Umsetzung dieser Übungen zu unterstützen, findest du hier alle Anleitungen als PDF zusammengestellt. 

Polyvagal-Theorie Kritik: Chancen und Grenzen des Modells

Obwohl die Polyvagal-Theorie viele praktische Anwendungen bietet, gibt es auch Kritik. Einige Wissenschaftler hinterfragen die empirische Grundlage der Theorie und fordern weitere Forschung. Dennoch wird sie in der Praxis, insbesondere in der Traumatherapie, erfolgreich angewendet. Es ist wichtig, die Theorie als ein Modell zu betrachten, das hilfreiche Einsichten bietet, aber nicht alle Aspekte des menschlichen Verhaltens vollständig erklärt.

Fazit: Wie du nach der Polyvagal-Theorie Übungen nutzt, um dein Nervensystem zu stärken

Die Polyvagal-Theorie bietet dir ein wertvolles Verständnis dafür, wie dein Nervensystem auf Stress und soziale Interaktionen reagiert. Durch gezielte Übungen kannst du lernen, dein Nervensystem zu regulieren, deine Resilienz zu stärken und ein Gefühl von Sicherheit in deinem Alltag zu fördern. Nutze die bereitgestellten Ressourcen, um einen positiven Einfluss auf dein Wohlbefinden zu nehmen.

Häufig gestellte Fragen zur Polyvagal-Theorie

Was ist die Polyvagal-Theorie in einfachen Worten erklärt?

Die Polyvagal-Theorie erklärt, wie unser Nervensystem automatisch auf Sicherheit oder Gefahr reagiert, indem es zwischen Zuständen wie Entspannung, Kampf/Flucht oder Erstarrung wechselt.

Wie kann ich meinen ventralen Vagusnerv aktivieren?

Durch Übungen wie tiefes Atmen, Summen, soziale Interaktion und Achtsamkeit kannst du den ventralen Vagusnerv stimulieren und dein Nervensystem beruhigen.

Warum spielt Neurozeption in der Polyvagal-Theorie eine so große Rolle?

Neurozeption ist der unbewusste Prozess, durch den unser Nervensystem entscheidet, ob eine Situation sicher oder gefährlich ist, was unsere physiologischen Reaktionen beeinflusst.

Gibt es Kritik an der Polyvagal-Theorie und wie berechtigt ist sie?

Ja, einige Wissenschaftler fordern mehr empirische Belege für die Theorie. Dennoch wird sie in der Praxis erfolgreich angewendet, insbesondere in der Traumatherapie.


Literaturhinweise:

Porges, S.W.(1995). Orienting in a defensive world: Mammalian modifications of our evolutionary heritage. A polivagal theory. Psychophysiology, 32(4), 301-318

Stanley Rosenberg (2018): Der Selbstheilungsnerv – So bringt der Vagus-Nerv Psyche und Körper ins Gleichgewicht, VAK Verlag.

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